Die ehemalige Richtstätte in Emmenbrücke vor dem Hintergrund von Marc Augés Text über Ort und Nicht-Ort

Wie ich in anderen Kapiteln erwähnt habe, geht es mir in meiner Masterthesis darum, die Richtstätte in Emmenbrücke als Ort aus unterschiedlichen Perspektiven zu erfassen. Mit der Theorie über Ort und Nicht-Ort von Marc Augé fand ich entsprechende Unterstützung, um die Frage zu erörtern, welche Bedeutung die ehemalige Richtstätte in Emmenbrücke für die heutige Bevölkerung noch hat. Marc Augé benutzt den Begriff des anthropologischen Orts für diejenigen Orte, die durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet sind. Ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch geschichtlich bezeichnen lässt, wird als Nicht-Ort benannt.(1) Im Fall der heutigen Richtstätte von Emmenbrücke ist schwierig zu sagen, ob der Raum als Ort oder Nicht-Ort bezeichnet werden kann. Wirft man einen Blick in die jüngere Geschichte der Richtstätte von Emmenbrücke, wird schnell klar, dass die moderne Gesellschaft vom Kanton Luzern durch ihr Bedürfnis nach Mobilität den historischen Ort nach der archäologischen Untersuchung umgestaltete. Es zeigt sich auch, dass es kein Bedürfnis gab, den historischen Ort zu erhalten. Die Bezeichnung Richtstätte verweist auf einen Hinrichtungsort, der zwischen dem 16. und dem frühen 19. Jahrhundert der Luzerner Obrigkeit als Richtplatz diente.(2) 1942 wurde die zivile und 1999 die militärische Todesstrafe abgeschafft. An der Richtstätte von Emmenbrücke wurde aber schon seit 1789 niemand mehr hingerichtet. Der Ort verlor seine Funktion und die Bevölkerung verlor somit den Bezug zur Richtstätte. Auch heute will man sich wohl kaum mehr mit einem Ort identifizieren, wo ehemals Hinrichtungen stattgefunden haben. Einzig für die Wissenschaftler, für die Historiker und Archäologen, erhielt der Platz noch einmal Bedeutung: Im Vorfeld der Umgestaltungen des Platzes durch die Schweizerischen Bundesbahnen SBB wurden archäologische Ausgrabungen gemacht und wurde die Richtstätte noch einmal minuziös untersucht. Der historische Ort wurde in dem Moment in einen Nicht-Ort verwandelt, als er mit einem Elektrizitätswerk und einem Gleistrasse der SBB überbaut und zugedeckt wurde. Für Marc Augé sind Übergangsorte Nicht-Orte und damit Orte ohne Identität, ohne geschichtlichen oder anderen Bezug. Wenn man sich heute bei einem Spaziergang durch die Reusseggstrasse dem historischen Ort der Richtstätte nähert, erinnert kein Zeichen mehr an das ehemalige Monument (an den historischen Ort). Es ist, als ob es aus Emmenbrücke verschwunden wäre und die Vergangenheit (und damit das Geschehene) unter einem Gleistrasse der SBB vergraben werden musste. Die Richtstätte mit heutigem Standort zwischen Schachenstrasse und Dammweg bezeichne ich als Relational-Ort und ist nur ein Hinweis für die historische Richtstätte der Stadt Luzern. Heute stehen dort Info-Tafeln der Kantonsarchäologie, die über den archäologischen Fund berichten. Der geografisch korrekte Ort (jetzt: Nicht-Ort) befindet sich ein paar Meter nordwestlich des aktuellen Standorts der Info-Tafeln. „Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine Spiegelung findet.“(3) Der heutige Relational-Ort kann auch als ein Ort der Erinnerung bezeichnet werden. Er soll eine Relation zur historischen Richtstätte herstellen oder symbolisieren. Der Relational-Ort hat den Namen Ehemalige Richtstätte und Wasenplatz. Damit übernimmt er die Bezeichnung des historischen Ortes und wird sozusagen zu dessen Vertreter. Ich frage mich, ob diese Bezeichnung für den Relational-Ort überhaupt passend ist, wenn er selber gar nie Richtstätte und Wasenplatz war. „Die Vermittlung, die das Band zwischen den Individuen und ihrer Umgebung im Raum des Nicht-Ortes herstellt, erfolgt über Worte und Texte.“(6) In diesem Fall wird der Ort zum Vermittler. Der Name soll eine Orientierungshilfe sein und die Vergangenheit symbolisieren, damit das Geschehene nicht vergessen geht. Ich sehe hier einen Zusammenhang mit folgendem Satz vom französischen Philosophen Michel de Certeau: „In den grell von einer fremden Vernunft erleuchteten Räumen enthalten die Eigennamen Reserven an verborgenen und vertrauten Signifikationen.“(8) Der Signifikant des Namens verweist auf vergangenen Gebrauch, Geschichte oder eine Erinnerung, die sich im Namen eingelagert haben.(9) Für Ferdinand de Saussure ist der Begriff Signifikant „auch ein Lautbild, das durch Konventionalisierung im Gedächtnis gespeichert und abgerufen wird. Das auch so genannte Bezeichnende – Vermittler des Bezeichneten – ist zunächst ein Signal von materieller Substanz (ein Wort, ein Bild, ein Gegenstand). Erst ein Kode markiert es als Teil einer Relation und setzt den Semioseprozess in Gang, binnen dessen auf das Signifikat geschlossen wird.“(10) Gewisse Orte werden nur durch Worte und Texte vermittelt. Die Worte und Texte sollen eine Verbindung zwischen Ort und den Individuen herstellen. Diese Orte werden von Marc Augé als Nicht-Orte, imaginäre Orte, banale Utopien und Klischees bezeichnet.(7) Merkwürdig ist die Tatsache, dass auf Google Maps(5) und auf dem Geoportal des Kantons Luzern(4) der Relational-Ort nicht als Informationsort markiert ist und so gefunden werden kann. Der Relational-Ort existiert sozusagen nur inoffiziell und der historische Ort ist verschwunden (weil überbaut). Es scheint, dass der Ort und dessen geschichtlicher Hintergrund nicht offiziell wahrgenommen werden darf. Die Stadt Luzern ist offenbar nicht daran interessiert, den Relational-Ort (und damit auch den historischen Ort) der Richtstätte einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Dem Relational-Ort begegnet man eher zufällig beim Spaziergang.

(1) Augé, Marc: Nicht-Orte, Verlag C.H.Beck oHG, München 2010, S. 83; (2) Manser, Jörg: Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke (16. – 19. Jahrhundert), 1992, Band 1, S. 7; (3) Augé, Marc: Nicht-Orte, Verlag C.H.Beck oHG, München 2010, S. 83 – 84; (4) Geoportal der Stadt Luzern: https://rawi.lu.ch/themen/geoportal/online_karten (Eingesehen am 07.02.2016); (5) map.search.ch: http://map.search.ch/Luzern?x=55m&y=-2m&z=32 (Eingesehen am 06.02.2016); (6) Augé, Marc: Nicht-Orte, Verlag C.H.Beck oHG, München 2010, S. 96; (7) Augé, Marc: Nicht-Orte, Verlag C.H.Beck oHG, München 2010, S. 96; (8) Beuth, Katia: Stadtraum in Performance, Verl. Peter Lang, Frankfurt 2011, S. 95; (9) Beuth, Katia: Stadtraum in Performance, Verl. Peter Lang, Frankfurt 2011, S. 96; (10) Freie Universität Berlin (Hrsg.): Signifikant, http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/signifikant.html (Eingesehen am 06.02.2016)

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